Bindung

Bei der letzten Teambesprechung schilderte eine Kollegin, dass ein Mädchen (5 Jahre) den Umgang mit dem Vater ablehnte, bzw. verweigerte. Sie wolle zur Mutter zurück.

Trennen sich Eltern, gibt es oft einen erbitterten Streit um die Zugriffsrechte (juristisch korrekt um das „Sorgerecht“). Bei wem sollen die Kinder ihren Lebensmittelpunkt haben; neben der Aufenthaltsbestimmung gilt häufig auch zu klären, wer hat die Vermögenssorge, die Gesundheitsfürsorge und wer vertritt das Kind gegenüber Ämtern und Behörden. In der Regel wird das Sorgerecht von beiden Elternteilen ausgeübt. Bei hochstrittigen Trennungen entscheidet das Familiengericht häufig, dass der Aufenthalt auf einen Elternteil übertragen wird. Dennoch hat der andere Elternteil ein Recht auf einen geregelten, bzw. regelmäßigen Umgang. In schwierigen Fällen müssen sich die Eltern nicht persönlich begegnen. Das Kind wird an einen Mitarbeiter des Jugendamtes oder an einen Mitarbeiter der Jugendhilfe übergeben und diese Person führt das Kind dem anderen Elternteil zu.Übrigens, die Umgänge mit diesem KV müssen nicht begleitet werden. Es geht tatsächlich nur darum, dass sich die KE nicht persönlich begegnen. Trotzdem wäre es für die Fachkräfte der Jugendhilfe wichtig zu wissen, warum sich das Mädchen so verhält. Ein Ansatz, der heute nicht besprochen wird, wäre, dass sich das Kind unter dem Einfluss massiver elterlicher Manipulation so verhält. Der manipulative Elternteil lässt am anderen Elternteil kein gutes Haar. Dieses sogenannte elterliche Entfremdungssyndrom (PAS – parental alienation syndrome) bekommt ob seiner Bedeutung einen eigenen Beitrag.

Unser heutiges Thema heißt „Bindung“

Eine gut besuchte Kirche am Tag der Konfirmation. Die Gläubigen folgen konzentriert der Andacht des Pastors – Da, in den hinteren Reihen fängt ein Baby an zu schreien – Die meisten Köpfe wenden sich dem kleinen Schreihals zu. – keine Spur mehr von Andacht. Die Kindesmutter verlässt, da das Kind nicht so schnell zu beruhigen ist, das Gotteshaus. Die Konfirmationsfeier kann ihren weiteren Verlauf nehmen. Ein ausgezeichnetes Beispiel für Bindung! Irgendetwas scheint das Baby zu stören. Es fängt an zu schreien – es zeigt Bindungsverhalten. Auf der Seite der Erwachsenen löst das Schreien des Babys Fürsorgeverhalten aus. Natürlich ist es nicht notwendig, dass sich alle Gemeindemitglieder um das Bedürfnis des Babys kümmern. Das erledigt schon die Mutter oder der Vater.

Wir sehen:

Bindung hat zwei eng miteinander verwobene Komponenten:

Das Bindungsverhalten des Babys (weinen, schreien) löst unmittelbar bei der Bindungsperson Fürsorgeverhalten aus.

Bindungsverhalten  <->  Fürsorgeverhalten

Diese enge Verzahnung ist für den Säugling und im weiteren Verlauf für das Kleinkind und das Kind überlebensnotwendig.

Säugling sind nach der Geburt völlig hilflos! Babys sind ohne elterliche Fürsorge zum Tode verurteilt. Mangelhafte Fürsorge kann zu Entwicklungsverzögerung und im weiteren Verlauf zu seelischer Beeinträchtigung führen.

Aber wieso Verhalten sich Eltern so fürsorglich – ist es Liebe? Der Einfachheit halber bleibe ich heute nur bei der Mutter. Die Frau produziert im Gehirn während der Schwangerschaft im hohen Maße das Bindungshormon Oxytocin (auch „Kuschelhormon“). Frauen, bei denen nach der Geburt der Oxytocinspiegel dramatisch absinkt, können es unter Umständen als schwierig empfinden sich um den Säugling zu kümmern. Oft entwickelt sich in dem Zusammenhang eine nachgeburtliche Depression (PPD – post partale Depression).

Bei stillenden Müttern schießt ausgelöst durch das das Wehklagen des Säuglings durch Oxytocin die Milch ein.

Es ist unzweifelhaft, dass eine psychisch gesunde Mutter ihr Kind liebt und alles daran setzt ihr Kind zu versorgen. Diese mit Mutterliebe verbundenen Emotionen bereichern das Erleben im Austausch mit dem Kind.

Letztendlich ist es da egal, ob in der hunderttausend Jahre währenden Phylogenese der Spezies „Mensch“ das Verhalten des Individuums über Hormone ausgelöst und gesteuert wird.

Um den achten Monat herum – Achtmonatsangst, fremdeln

Im ZNS des Säuglings sind schon circa 100 Milliarden Neurone (Nervenzellen) vorhanden. Es reicht aus, dass die elementaren Abläufe funktionieren: Atmung, Stoffwechsel, Temperaturregelung und verschiedene Reflexe, wie der Saugreflex. Nach der Geburt entwickelt sich das Gehirn rasant. Weitere Nervenzellen kommen hinzu und es werden unzählige Verbindungen zwischen den Nervenzellen hergestellt. Um den achten Monat herum passiert folgendes: Wurden bisher alle Tanten und Freunde vom Kleinkind angelächelt, wird jetzt auf die liebe Tante mit Abwehr und Gebrüll reagiert. Konnte das Fürsorgeverhalten bisher von allen Familienmitgliedern am Objekt durchgeführt werden, ist dieses scheinbar wählerisch geworden – nur Mutter und Vater sind privilegierte Fürsorger.

Was ist passiert?

Das ZNS ist so weit in seiner Entwicklung vorangeschritten, dass es im ZNS des Kindes, vereinfacht ausgedrückt, zwei Sofortbildkameras gibt. Die eine Kamera verfügt über eine große Anzahl von Filmmaterial. Dieser „Typdetektor“ vermittelt dem Kind nur den Unterschied zwischen Menschen und Nichtmenschlichen (Affen, Wölfe, Hamster, Elefanten usw.). Jedes Lebewesen wird mit dem Foto „Typ“ abgeglichen. Die Kamera „Individualdetektor“ kann nur zwei Aufnahmen machen. Die Personen, die sich vornehmlich während der ersten acht Lebensmonate im Gesichtsfeld des Kleinkindes aufgehalten haben, zumeist Mutter und Vater, werden fotografiert und im ZNS abgelegt. Dieser Vorgang ist einmalig und nicht umkehrbar. Eltern und Kind sind auf alle Zeiten aneinandergebunden. Diese Prägungslernen gibt es auch bei anderen Arten. „Unterhält“ man sich (Stimmfühlungslaute), wenige Tage vor dem Ausschlüpfen im Brutapparat mit Gänseküken und ist beim Schlüpfen zugegen, so folgen einem die Küken, obwohl man nicht im Entferntesten eine, Gänsemutter ähnelt.  Gnus sind die größte afrikanische Antilopenart. Sie zeihen in größeren Gruppen durch die Savanne. Verliert ein Gnukalb seine Mutter durch einen großen Beutegreifer, dann ist das Kalb zum Tode verurteilt Keine andere Kuh der Herde wird sich des Kalbes annehmen.

Doch was passiert, wenn keine verlässlichen Bindungspartner vorhanden sind?

 Bleiben wir bei dem Beispiel mit der Sofortbildkamera: werden dem Kleinkind in den erste acht Monaten permanent wechselnde Betreuungspersonen präsentiert, dann muss das Foto „unscharf“ bleiben. Auf dem Foto ist keine Person eindeutig zu erkennen. Das Bild gleicht eher dem Typdetektor.

Kinder, die ich in Heimsituationen kennenlernen durfte, sprangen, ohne zu zögern auf meinen Schoss, umarmten und drückten mich. Klar, denn nach den oben gemachten Ausführungen kann ich ja, wie auch jeder andere die primäre Bindungsperson sein. Die klassische Position von Bowlby, dass die Kindesmutter, neben dem Vater, die wichtigste Bindungsperson sei, muss sich heutzutage Kritik gefallen lassen, da viele Frauen Beruf und Familie unter einen Hut bekommen müssen, wobei viele Frauen auch noch alleinerziehend sind. Ein Artikel im Solinger Tageblatt vom xxxxxxx : „Mythos Bindungstheorie: Ein Kind braucht nicht nur eine Mutter“ verweist auf die Bedeutung und den positiven Einfluss der kleinkindlichen und kindlichen Entwicklung bei familiärer Unterstützung.  Dies trifft zu, setzt aber nicht die fundamentale Bedeutung des neurophysiologischen Prozesses des Prägungslernens beim Kleinkind um den achten Monat herum außer Kraft. In der Jugendhilfe erlebe ich häufig völlig überförderte Mütter, die bei hohem Stresslevel kaum in der Lage sind, das notwendige Fürsorgeverhalten dem Kind angedeihen zu lassen. Oftmals höre ich im Erstgespräch in der Sprache des Vorwurfs „Ich bin ja alleinerziehend!“, gleichbedeutend mit, die Familie oder der Freundeskreis bieten keine Entlastung an.

Doch welche Bindungstypen gibt es:

  • sicher gebunden
  • unsicher gebunden (positiver Bindungspartner bei negativem Selbstbild)
  • unsicher gebunden (negativer Bindungspartner bei positivem Selbstbild)
  • chaotisch (negativer Bindungspartner bei negativem Selbstbild)

Negative Bindungspartner finden sich in den Bereichen

  • psychische Erkrankungen

Schizoaffektive Psychose, Schizophrenie, Borderline -Persönlichkeitsstörung, Depression, bipolare Störung (manisch-depressiv)

  • Sucht

Heroin, Kokain, Pep, Chrystal Meth, Medikamentenabhängigkeit, Alkohol, Spielsucht

  • Erziehungsunfähigkeit

Polytraumata durch Missbrauch, Vernachlässigung, körperliche und seelische Gewalt

 

Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – Kombinationen der oben angeführten Themen sind durchaus häufig anzutreffen.

Überprüfen lassen sich die Bindungstypen experimentell:

Die Kindesmutter betritt mit Kind ein Wartezimmer. Im Zimmer hält sich eine weitere Frau auf, um das Verhalten des Kindes zu beobachten, nachdem die Mutter das Zimmer verlässt. Im Zimmer gibt es Spielzeug, welches vom Kind bespielt werden kann.

Wie verhält sich das Kind während der Abwesenheit der Mutter?

Wie reagiert das Kind auf die Rückkehr der Mutter?

Zu guter Letzt eine Hypothese:

Auf dem Hintergrund einer gestörten Bindung lassen sich meines Erachtens eine Vielzahl kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnosen besser verstehen.

Was meint ihr?